Arbeiterkultur

A: ḥaḍāra ʿumālīya. – E: working class culture. – F: culture ouvrière. – R: proletarskaja kultura. – S: cultura obrera. – C: gongren wenhua

Dieter Kramer

HKWM 1, 1994, Spalten 468-472

In der marxistischen Analyse wurden, als im 19. Jh. die Klasse der »doppelt freien Lohnarbeiter« entstand, auch Beschreibungsmuster für ihre Sozialkultur notwendig. Engels umschreibt die besonderen, von der übrigen Bevölkerung deutlich unterschiedenen Lebensbedingungen der Proletarier mit der Formel, sie seien »ein ganz anderes Volk geworden als die englische Bourgeoisie« (Lage, vgl. Metscher 1982). Fast gleichzeitig hat Benjamin Disraeli diesem Topos in seinem Roman Sybil, or the two Nations literarische Gestalt verliehen. 1848 sprechen Marx und Engels davon, daß der Kapitalismus zur Zerklüftung der Nation »in zwei Nationen, die Nation der Besitzer und die Nation der Arbeiter« führe (MEW 5). In der theoretischen Analyse spielte später A eine noch geringere Rolle als Kultur überhaupt: Für die Analyse der Bewegungsgesetze des Kapitals und für die politisch-revolutionäre Bewegung drängten Kultur und »Lebensweise« (MEW 3) sich nur in Ausnahmefällen (z.B. bei den französischen Parzellenbauern im 18.B) in den Vordergrund.

Die frühen Arbeiterorganisationen gingen aus dem liberalen bürgerlichen Vereinswesen hervor, fanden dann aber zu eigenständigen Formen. Ihre Vereine waren immer auch kulturelle Institutionen der gemeinschaftlichen Gestaltung von Lebensverhältnissen. In den Arbeitervereinen entstanden in Deutschland in den 1860er Jahren die ersten Formen von proletarischen ästhetischen Produktionen (Arbeitertheater) und proletarischer Körperkultur (Arbeitersport), in die auch die neuen Lebensbedingungen Eingang fanden (Rüden 1979, Barth 1978). Ihrem eigenen Selbstverständnis nach wurde die deutsche Arbeiterbewegung zur »Kulturbewegung«. Orientiert an der Programmatik der Französischen Revolution und den humanistischen Idealen der deutschen Klassik, strebte sie danach, die Vorstellung des mündigen, souveränen und freien Menschen in eine für alle realisierbare Lebensform münden zu lassen – was in ihrem Verständnis die Umgestaltung der Eigentumsordnung zur Voraussetzung hatte. Dies gipfelte in dem nie (auch nicht im »Proletkult«, vgl. Gorsen/Knödler-Bunte 1974) voll eingelösten Anspruch, eine in allen Teilen von der bürgerlichen deutlich unterschiedene proletarische Kultur zu entwickeln.

Für die an marxistischen Positionen orientierte Forschung wird die Auflösung der A nach 1945 zum Problem. Pluralisierung der Lebensstile und Informalisierungsprozesse (Maase 1992) folgen seit den 1950er Jahren in hohem Maße einer anderen als der klassenspezifischen Dynamik. Wie auf zahlreichen Gebieten das Prinzip der (proletarischen, genossenschaftlichen) Selbsthilfe in der Nachkriegszeit vor allem auf der kommunalen, teilweise aber auch der Landes- und Bundesebene ersetzt wurde durch die öffentliche Tätigkeit, so werden im Kulturbereich Funktionen der proletarischen Kulturorganisationen z.T. bewusst durch die sich ausweitende öffentliche Kulturpolitik wahrgenommen (die Programmatik von »Kultur für alle« ist nicht denkbar ohne Reminiszenzen an die Arbeiterkulturbewegung) und informell durch die Kulturindustrie übernommen.

Alltag, Arbeiterbewegung, Arbeiterkulturbewegung, Arbeitskraft, Bedürfnis, Familie, Familienarbeit/Hausarbeit, Gegenkultur, Genossenschaft, Humanismus, Ideologietheorie, Kultur, Kulturindustrie, Kulturpolitik, Lebensweise/Lebensbedingungen, Massenkultur, moralische Ökonomie, Proletkult, Reproduktion, Sozialpolitik, Volkskultur im Kapitalismus, Volkskultur (vorkapitalistische), Wohnungsfrage

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