Christentum und Marxismus
A: al-masīḥīyūn wa'l-marksīya. – E: christianity and marxism. – F: christianisme et marxisme. – R: christianstvo i marksizm. – S: cristianismo y marxismo. – C: Jidu jiao yu Makesi zhuyi 基督教与烏克思主叉
Helmut Gollwitzer
HKWM 2, 1995, Spalten 491-495
Die von Marx und Engels entwickelte und von anderen dann weiter ausgearbeitete Theorie und Methode selbst wurde von ihren Vertretern von Anfang an im Gegensatz zu den christlichen Kirchen und ihren Lehren, ja zu allen Formen von Religion überhaupt verstanden und darum von der Gegenseite her entsprechend negativ beurteilt und bekämpft. Die marxistische Religionskritik wußte sich als radikaler Vollzug der Religionskritik der Aufklärung und der Säkularisierung der europäischen Gesellschaft, über ihre Vorgänger (bes. Feuerbach) hinaus, und sie wußte sich getragen vom Gang der neuzeitlichen Wissenschaft, die jeden Rückgriff auf transzendente Instanzen zur Erklärung des Weltgeschehens eliminierte. Dieser konsequent immanenten Weltauslegung konnten dann auch die Religionen nichts anderes als Produkte des menschlichen Geistes sein, und zwar ursächlich bedingt durch historische Verhältnisse, die der historische Materialismus aufzuklären imstande ist. Die in den Religionen zu findende Unterscheidung von Diesseits und Jenseits, von weltlichen und nichtweltlichen Realitäten, die Dualität von Welt und Überwelt konnte nur noch als Folge einer Entfremdung von der dem menschlichen Bewusstsein allein unmittelbar gegebenen, feststellbaren und greifbaren weltlichen Realität erscheinen, einer Entfremdung infolge gesellschaftlicher Bedingungen, die verhindern, daß die Menschen mit sich selbst einig sind und in ihrem Leben zwischen Geburt und Tod eine Befriedigung finden, die sie nicht mehr einer jenseitigen Erfüllung bedürftig macht. Ist die Aufhebung dieser Entfremdung durch Aufhebung ihres Bedürfnisses Ziel und Hoffnung des durch den Marxismus mit einer leitenden Theorie ausgestatteten Sozialismus, dann konnte die Religion nur Epiphänomen einer überholbaren Epoche der Menschheitsgeschichte sein, als vorwissenschaftliche Weltanschauung überholbar durch den Fortschritt der Wissenschaft, als Ausdruck eines durch Entfremdung bedingten Bedürfnisses überholbar durch den Fortschritt zu einem allseits befriedigenden Gesellschaftszustand. […]
Die Religionen und die christlichen Kirchen haben auf diese Einschätzung entsprechend negativ reagiert. Nur wenige fragten vor dem Ersten Weltkrieg unbefangen nach den Wahrheitselementen der marxistischen Religionsbeurteilung und nach einer Vereinbarkeit von Marxismus und christlichem Glauben (Religiöse Sozialisten, Wilhelm Hohoff). Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Lage gänzlich verändert: In Europa kam es zu einem »christlich-marxistischen Dialog«, in dem es zunächst um den Austausch über die Gründe der Kontroverse und um Verständigung über die beiderseitigen Anliegen und über die Möglichkeit von Konvergenz ging. Im außereuropäischen Bereich drängte man weiter: einerseits zu weitgehender Übernahme von marxistischen Elementen durch Buddhisten (Burma, Japan) und Christen (»Theologie der Befreiung«), andererseits von religiösen Elementen durch Marxisten, die der starken Gegenwartskraft der Religion, gerade auch in den revolutionären Volksmassen, ansichtig wurden und sich fragen mussten, ob ihr Religionsverständnis nicht zu eng und einseitig sei und ob die antireligiöse Agitation nicht die revolutionäre Agitation unnötig behindere.
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