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Dreißig Jahre Wörterbuchprojekt (1983-2013)
"Historisch-kritischer Marxismus"?
Notizen zur Einleitung der InkriT-Tagung von 2013

1. Zur gesellschaftlichen Reaktualisierung von Marx im Prozess der Großen Krise
003 hatten wir zum ersten Mal die >Krise< im Dachthema der Tagung. Es lautete > Krisen / Kriege / Klassenkämpfe<. Das war dem Alphabet geschuldet, das uns Wörterbuchmachern diese Begriffe auf die Tagesordnung setzte und wir in der Regel versuchen, das Generalthema mit der Arbeit an jeweils zentralen Artikeln abzustimmen – so wie diesmal mit dem Marxismus-Komplex, der in Band 8/II zum Zuge kommt. 2006 und 2007 häuften sich die Bankenzusammenbrüche in den USA. Doch Spekulation und Konjunktur liefen noch immer überschäumend. Bis am 15. September 2008 die Lehman Bank zusammenbrach, was Eric Hobsbawm  2009 mit dem Satz kommentierte, dieser Tag werde >den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen<.

Im Frühjahr 2009, im Moment des Umschlags der von den USA austrahlenden Finanzkrise in eine Welt-Wirtschaftskrise, als wir zu Beginn der 14. InkriT-Tagung den 50. Geburtstag der Zeitschrift Das Argument feierten, lautete das InkriT-Thema >Metamorphosen und Perspektiven der kritischen Intellektuellen im Zeichen der Krise des Weltkapitalismus<. Jetzt war die Krise aus dem ABC in die Wirklichkeit gewandert. Ihr Fortgang belehrte uns schließlich, von der >Großen Krise< zu sprechen.

Unter >Großer< im Unterschied zu >konjunktureller Krise< können wir mit Elmar Altvater eine >strukturelle< oder >Formkrise< des Kapitalismus verstehen (1983, 94)1, die als solche nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine gesellschaftliche Krise ist und die Formen stört, >in denen sich Hegemonie reproduziert<; sie leitet einen umfassenden Restrukturierungsprozess ein, der >alle gesellschaftlichen Bereiche, das Insgesamt von Politik und Ökonomie und infolgedessen die Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung< betrifft (97).

Die gesellschaftliche Wahrnehmung unseres Erzautors Marx verschob sich. Zunächst trieb das sonderbare Blüten. >Karl Marx ist der Dichter unserer Krise< betitelte die FAZ vom 28. Oktober 2008 ein Interviews mit Alexander Kluge, das die erste Seite des Feuilletons füllte. Anlass das Erscheinen einer DVD-Box von Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Die Dramatik der Krise von 1929 >wiederholt sich offensichtlich gerade<. Kluge, der das sagte, schien zu schwanken, denn zugleich erklärte er Marx für >längst historisiert. Er ist nicht gegenwärtig.< In Europa liege er, >durch die Protestbewegung und den orthodoxen Marxismus, wie unter 25 Meter Lava begraben<.

Vier Jahre später las es sich im Handelsblatt 2012 ernsthafter: >Marx ist der Subtext zur Dauerkrise<, ja der >letzte unwiderlegte Klassiker<, da >die Kritik an den Fehlleistungen der Ökonomen-Zunft vor der Krise ihn nicht trifft, nahezu alle anderen aber ramponiert< (Handelsblatt, Nr. 198, 2012, 54). – In Esslingen hat 2013 laut meinem Buchhändler die Deutsche Bank ein Exemplar des Kapital von Marx angeschafft, weil die Mitarbeiter nur von Marx lernen könnten, wie Kapitalismus wirklich funktioniert.
Soviel zu Marx.

2. Aber was ist mit Marxismus?

Einige werden den Artikel aus der jungen Welt kennen, in dem Frigga Haugs HKWM-Eintrag >Linie Luxemburg-Gramsci< einer marxistisch-leninistischen Inquisition unterworfen wird. >Linie< wird hier im Sinne der unter Stalin ausgeprägten Kaderpartei verstanden. Sie meint die rote Linie, deren Überschreitung den Ausschluss bedeutet. Friggas Artikel erkundet die Orientierungen Rosa Luxemburgs und Antonio Gramscis, die Peter Weiss im Sinn hatte, als er den Ausdruck >Linie Luxemburg-Gramsci< in seinem Arbeitstagebuch notierte, um den politischen Horizont seiner Ästhetik des Widerstands zu bezeichnen.

Da war nun also das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus ein Parteianalogon, dem eine eigene Ideologie namens >historisch-kritischer Marxismus< zugeordnet und verdammt wurde – nebenbei: ohne eine Erwiderung aus dem Kreis der Redaktion zuzulassen.

Probe aufs Gegenteil: was wäre wohl ein unhistorischer und unkritischer Marxismus? Doch das war nicht gemeint, sondern Anstoß erregte die Verpflichtung auf einen Marxismus, der seine eigene Geschichte historisch-kritisch aufarbeitet. Wir könnten auch sagen: ein Marxismus, der die historisch-materialistische und dialektische Herangehensweise auch auf sich selbst bezieht.

Ja, allerdings, dafür steht unser Projekt. So schrieb ich 1983 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Georges Labicas Dictionnaire critique du marxisme, dessen Titel kündige etwas in der Geschichte des Marxismus ebenso Neues wie dringend Gebrauchtes an: >Dass ein historisches Verhältnis zu den eigenen Begriffen und ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte eine Selbstverständlichkeit werde.< Um die Epoche machende Bedeutung dieses Anspruchs deutlich zu machen, zitiere ich Klaus Holzkamps kühnen Satz aus AS 100: >Die Vorgeschichte des Marxismus ist noch nicht zu Ende.< – Er spielt an auf den marxschen Satz, mit der Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsformation schließe >die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab< (13/9). – Und dann ziehe ich – immer noch in jenem Vorwort vom Sommer 1983 – den Vergleich zu jenem anderen Einschnitt, der mit dem Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte nun nicht der endlich menschlichen, sprich klassenlossen, sondern der bürgerlichen Gesellschaft verbunden war >und den […] Pierre Bayle mit der Veröffentlichung seines Historisch-kritischen Wörterbuchs beförderte< und damit >der Aufklärung […] entscheidend vorgearbeitet< und den Weg für Diderots Enzyklopädie gebahnt hat.

Als ich dies schrieb, hatten wir noch ein bis zwei Ergänzungsbände zu Labicas Kritischem Wörterbuch des Marxismus im Sinn. Doch zwei Jahre später wurden die Weichen in der SU in Richtung Umbau (>Perestrojka<) umgestellt, was binnen weniger Jahr in den Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus mündete. Das Ende der Vorgeschichte des Marxismus erschien der Welt damals als das Ende seiner Geschichte. Wir aber traten auf im Kostüm Don Quijotes, an den Hoffnungen und Ansprüchen des anscheinend Vergangenen festhaltend. Niemand erhob mehr Besitzansprüche auf den Marxismus. Jetzt erst wählten wir den Namen Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus für unser Projekt. Und einige derer, die uns dereinst wegen der Rede vom Pluralen Marxismus ausgegrenzt hatten, klagten unter Berufung auf diesen programmatischen Begriff jetzt für ihre Ansichten das Bürgerrecht im HKWM ein.

Der komisch redundante Name >historisch-kritischer Marxismus< hat also sein Körnchen Richtigkeit. Denn Haltungen, die der Vorgeschichte des Marxismus angehören, haben nur noch als historisch-kritisch behandelte ein Recht in der Geschichte des Marxismus. Man kann kein Marxist mehr sein, wenn man sich nicht marxistisch zu sich selbst verhält.

Dass das als Stachel gespürt und bekämpft wird, ist nun aber auch ein Indiz für die neue Aktualität von Marx.

Die Idylle der Irrelevanz neigt sich dem Ende zu.

3. Sprachschranken

Die Begriffsverbindung >historisch-kritisch<, die als Formel jahrhundertelang in der Editionstechnik ihr Dasein gefristet hat, verlangt auch einen entsprechenden Umgang mit den Quellen. Hier stößt die fürs HKWM wesentliche internationale Zusammenarbeit auf ein Problem.

Long, long ago, da war die Hauptsprache des modernen Sozialismus der ganzen Welt das Deutsche. Noch die Tagungssprache der III. (der kommunistischen) Internationale in Moskau war in den ersten Jahren Deutsch. Selbst Stalin wurde von Lenin gezwungen, deutsch zu reden.

Es ist ein Problem für den wissenschaftlichen oder theoretischen Marxismus, dass seine klassischen Texte auf Deutsch vorliegen, während viele des Deutschen nicht mächtige marxistische Intellektuelle glauben, sie könnten Marx aus den Übersetzungen studieren.

Hier liegt auch unser Problem mit manchen Beiträgen zum HKWM. Die Redakteure wissen ein Lied davon zu singen.

4. Welcher Kapitalismus?

Wenn man nach dem Marxismus angesichts der Großen Krise fragt, ist ein anderes Problem nicht weniger brennend. Ich meine die Frage, was das für ein Kapitalismus ist, der da in seine Große Krise geraten ist.

Blicken wir zurück auf die Große Krise von 1929ff. Damals war es der Gefangene Gramsci, der die Große Krise seiner Zeit als die des Fordismus (des fordistischen Kapitalismus) analysierte, – ein Kontext, in den er auch den Faschismus und den heraufziehenden Stalinismus stellte.

In der deutschen Linken brauchte der Begriff des Fordismus danach ziemlich genau ein halbes Jahrhundert, bevor er zu einem Thema wurde – er wurde es, als der wirkliche Fordismus in seine Endkrise eingetreten war. O Eule der Minerva...!

Und heute? Heute bringt es der linke Mainstream noch immer nicht über Konzepte wie Postfordismus oder Superfordismus hinaus. Evidenz zieht er aus den mit >Billigarbeit< betriebenen Montageketten für die trendigen Hightech-Produkte im chinesischen Shenzen oder der Textilindustrie in Pakistan. Doch diese Beispiele verdecken den Blick aufs epochal dominante transnationale Kapital, das jenen Betrieben ihre subalterne Stellung zu weist und die Bedingungen für die Arbeitenden an den Rand des Existenzminimums drückt – wie einst die von Marx im Kapital analysierte Große Industrie die Arbeits- und Lebensbedingungen in den noch vorindustriellen Manufakturen.

Also: Was ist da in Krise geraten? Offenbar ein Kapitalismus, dessen globale Allokation, überhaupt dessen Bedingungen und Akteure die Hochtechnologie mit dem Computer als Leitproduktivkraft umgewälzt hat.

Ferner: Wie erklärt sich die spektakuläre Rolle des Finanzkapitals und seines seit den Zeiten des Fordismus explosiv gewachsenen Überbaus von fiktivem Kapital? Diese Phänomene erklären nichts, sondern sind zu erklären.

Der radikale Wandel in Struktur und Superstrukturen des Kapitalismus, ja in der Mentalität und der allgemeinen Kultur wird oftmals eher von Nichtmarxisten analysiert – dann aber zumeist durch ideologische Brillen wie der der Wissensgesellschaft mit vermeintlich immaterialisierter Ökonomie.

Die Frage nach der Dialektik von hochtechnologischen Produktivkräften und transnationalen Produktionsverhältnissen aber ist auf der Linken weithin vom Interesse für den Finanzkapitalismus der Gegenwart verdrängt worden.

Lebendiger Marxismus erweist sich heute daran, wie er diese Krise analysiert und welche praktischen Konsequenzen er daraus ableitet. Mögen die Vorträge und die Diskussionen – einschließlich der Pausendiskussionen – zum fälligen Auf-den-geschichtlichen-Tag-Bringen beitragen, für das die Italiener das Wort aggiornamento haben. Wohlan denn, begeben wir uns an die Arbeit!

Wolfgang Fritz Haug

1 In: Aktualisierung Marx’, Argument-Sonderband AS 100, 1983, 94.

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