Naturverhältnisse, gesellschaftliche

A: ʽalāqāt al-muǧtamaʽ ma’a aṭ-ṭabīʽa. – E: societal nature relations. – F: rapports sociaux à la nature. – R: obščestvennye otnošenija prirody. – S: relaciones societales con la naturaleza. – C: shèhuì de zìrán guānxi 社会的自然关系

Christoph Görg, Ulrich Brand

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2258-2276

Der Begriff der gNv enthält im Kern einen materialistischen und zugleich dialektischen Gesellschaftsbegriff, der den »Arbeitsprozess« als »allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur« und dabei »allen seinen Gesellschaftsformen« gemeinsame, »ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens« (Marx, K I, 23/198) betont, wobei dieser Stoffwechsel allerdings durch die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Produktionsweisen historisch unterschiedlich gestaltet wird. Diese Gestaltung ist nicht beliebig. Die »Produktivität der Arbeit [bleibt] an Naturbedingungen gebunden« (535). Der vorgefundene natürliche Reichtum bildet ihre Grundlage, wobei »eine zu verschwenderische Natur« die »Entwicklung« des Menschen allerdings »nicht zu einer Naturnotwendigkeit« macht; erst die »Notwendigkeit, eine Naturkraft gesellschaftlich zu kontrollieren, damit hauszuhalten, sie durch Werke von Menschenhand auf großem Maßstab […] anzueignen oder zu zähmen«, führt zum Eintritt in die »Geschichte der Industrie« (536f).

Der Begriff der gNv entstand in den späten 1980er Jahren im Vorfeld der Gründung des Frankfurter Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE). So findet sich etwa in einem Gutachten der Forschungsgruppe Soziale Ökologie (1987, 154 u.ö.) – dort noch im Singular – eine frühe Verwendung (vgl. Becker 1991; Jahn 1991, 117-23; Görg 1999, 173ff). Diese begriffliche Arbeit stand im Kontext der Politisierung von Umweltproblemen in Westdeutschland seit den 1970er Jahren, dies wiederum auch in Reaktion auf Studien wie Der stumme Frühling (1962) von Rachel Carson und die vom 1968 gegründeten Club of Rome in Auftrag gegebene mathematische Modellierung der globalen Grenzen des Wachstums (Meadows u.a. 1972). Der Begriff wendet sich wissenschaftlich gegen Positionen in Soziologie und Gesellschaftstheorie, die gesellschaftliche Verhältnisse auf zwischenmenschliche Beziehungen reduzieren und den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur ausklammern.

Marx arbeitet bereits in K I heraus, dass die Logik der kapitalistischen Organisation die natürlichen »Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (23/530). Gestützt auf Studien von Justus von Liebig und anderen Naturwissenschaftlern seiner Zeit gelangt er zu dem Schluss, dass die Bedingungen des »großen Grundeigentums« einen »unheilbaren Riss […] in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels« (K III, 25/821) hervorrufen, der die gesellschaftlich vermittelten Stoff- und Energiekreisläufe (z.B. den Nitratkreislauf) prekär werden lässt. Zudem ist auch Marx sich bewusst, dass Ressourcenknappheit tendenziell die Produktionskosten steigen lässt und wirtschaftliche Krisen generieren kann, was kapitalseitig zu Bemühungen führt, Energie- und Materialkosten zu senken. Mit dem Fokus auf die kapitalistische Produktionsweise und ihre spezifische Krisenhaftigkeit bietet die marxsche KrpÖ eine theoretische Grundlage, die Krisendynamiken in den globalen Mensch-Natur-Verhältnissen zu analysieren.

Die globale sozial-ökologische Krise seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. bestätigt die Kernbotschaft des Begriffs der gNv in dramatischer Weise: dass jegliche menschliche Gesellschaft grundlegend von der Art und Weise geprägt ist, wie sie die Aneignung der Natur organisiert, welche Wechselwirkungen sich daraus ergeben und welche Rückwirkungen die Transformation der natürlichen Umwelt auf die Gesellschaft zeitigt. Diese Rückwirkungen gewinnen unter Bedingungen der Dominanz der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise eine destruktive Dynamik, die sich zu einer umfassenden ökologischen Krise zuspitzt. Diese Krise bringt die empfindlichen Abhängigkeiten der Gesellschaften von ›der Natur‹ zum Vorschein, angefangen bei der Bedeutung fossiler Brennstoffe als Energieträger über Landnutzung und Ernährungssouveränität bis hin zu Fragen der Gesundheitsbelastung und Klimakatastrophe. Die kapitalistisch geprägten gNv vermehren und verschärfen zudem gesellschaftliche Antagonismen: Die Aneignung der Natur unter der strukturell expansiven kapitalistischen Gesellschaftsform hat zwar einen historisch einzigartigen materiellen Wohlstand hervorgebracht, doch keineswegs in allen Teilen der Welt und nicht für alle Bevölkerungsgruppen in vergleichbarer Weise.

Während die zentrale Bedeutung des Stoffwechsels mit der Natur bei Marx und Engels unbestreitbar ist, herrschte im Marxismus lange Zeit ein dualistisch geprägtes (d.h. Natur und Gesellschaft als getrennte Sphären begreifendes) und naturalistisch verkürztes (d.h. Natur als bloßes Objekt gesellschaftlicher Gestaltung setzendes) Verständnis vor, das die Ausbeutung der Natur genauso wenig in den Blick nahm wie die Gefährdung menschlicher Lebensbedingungen durch deren negative Rückwirkungen. Nur wenn der dialektische, d.h. anti-dualistische Gehalt des Begriffs der gNv effektiv aufgegriffen wird, kann er sein Potenzial zur Zeitdiagnose und zur Formulierung von Strategien gegen die globale(n) sozial-ökologische(n) Krise(n) entfalten.

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n/naturverhaeltnisse_gesellschaftliche.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 20:19 von christian     Nach oben
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