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i:irrtum [2015/05/06 16:49]
christian
i:irrtum [2024/02/16 08:22] (aktuell)
christian
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-»Irrtum ist Irrtum! Ob ihn der größte Mann, ob ihn der kleinste beging«, heißt es in Goethes und Schillers //Xenien//. Doch wenn Shakespeare erklärt, dass »falsehood is worse in kings than beggars« (//Cymbeline//), enthüllt er einen moralischen Kern, der in der <!--[-->[[l:Lüge|Lüge]]<!--]--> gegenwärtig ist, aber im I fehlt; denn hier sind Könige und bettelnde Vasallen gleichermaßen überzeugt, dass sie die Wahrheit sprechen. Lüge oder Betrug werden absichtlich begangen, der I widerspricht der Absicht; jene zielen auf fremden I, sind aber selbst keiner. Irrtümer gründen auf »falschen ›[[e:Evidenz|Evidenzen]]‹« (Althusser 1967). Durchschaut werden sie von denen, die sie begehen, allenfalls nachträglich. »Der Satz ›Ich irre jetzt‹ […] ist sinnlos.« (Schwarz 1976) Anders als ›[[f:falsches Bewusstsein]]‹ ist ein I konkret-gegenständlich benennbar. Während ›[[f:Fehler]]‹ v.a. darin bestehen, ein [[h:Handlung]]sziel //praktisch //zu verfehlen, ist der I //theoretisch//: Irrtümer sieht man ein, wenn sich eine Annahme als unzutreffend herausstellt, weil man etwas falsch eingeschätzt, nicht berücksichtigt oder verwechselt hat.  +»Irrtum ist Irrtum! Ob ihn der größte Mann, ob ihn der kleinste beging«, heißt es in Goethes und Schillers //Xenien//. Doch wenn Shakespeare erklärt, dass »falsehood is worse in kings than beggars« (//Cymbeline//), enthüllt er einen moralischen Kern, der in der <!--[-->[[l:Lüge|Lüge]]<!--]--> gegenwärtig ist, aber im I fehlt; denn hier sind Könige und bettelnde Vasallen gleichermaßen überzeugt, dass sie die Wahrheit sprechen. Lüge oder Betrug werden absichtlich begangen, der I widerspricht der Absicht; jene zielen auf fremden I, sind aber selbst keiner. Irrtümer gründen auf »falschen ›[[e:Evidenz|Evidenzen]]‹« (Althusser 1967). Durchschaut werden sie von denen, die sie begehen, allenfalls nachträglich. »Der Satz ›Ich irre jetzt‹ […] ist sinnlos.« (Schwarz 1976) Anders als ›[[f:falsches Bewusstsein]]‹ ist ein I konkret-gegenständlich benennbar. Während ›[[f:Fehler]]‹ v.a. darin bestehen, ein [[h:Handlung|Handlungs]]ziel //praktisch //zu verfehlen, ist der I //theoretisch//: Irrtümer sieht man ein, wenn sich eine Annahme als unzutreffend herausstellt, weil man etwas falsch eingeschätzt, nicht berücksichtigt oder verwechselt hat. 
- Das Gegenteil des I ist die Wahrheit. Doch die Wahrheit von heute kann sich morgen als I herausstellen. Die [[e:Erfahrung]] dieser unabschließbaren [[b:Bewegung]] und unaufhebbaren Zweideutigkeit kann zu Relativismus führen oder eine generelle Skepsis nähren. Im Gegenzug stemmte sich dagegen immer wieder ein [[f:Fundamentalismus]] der einen Wahrheit, der in die Falle der Ideologie geht. Dagegen sagt man, »wenn ich mich nicht irre …«, oder: »täusche ich mich nicht, dann ist …«, und gibt so zu verstehen, dass man keinen Absolutheitsanspruch stellt, sondern sich ›einreiht‹. Mythos und Dichtung haben große Gestalten des I hervorgebracht: Ödipus, der im I schuldig wird, Odysseus, die personifizierte Irrfahrt, Don Quijote, der sich in der [[e:Epoche]] irrt.+ 
 +Das Gegenteil des I ist die Wahrheit. Doch die Wahrheit von heute kann sich morgen als I herausstellen. Die [[e:Erfahrung]] dieser unabschließbaren [[b:Bewegung]] und unaufhebbaren Zweideutigkeit kann zu Relativismus führen oder eine generelle Skepsis nähren. Im Gegenzug stemmte sich dagegen immer wieder ein [[f:Fundamentalismus]] der einen Wahrheit, der in die Falle der Ideologie geht. Dagegen sagt man, »wenn ich mich nicht irre …«, oder: »täusche ich mich nicht, dann ist …«, und gibt so zu verstehen, dass man keinen Absolutheitsanspruch stellt, sondern sich ›einreiht‹. <!--[-->[[m:Mythos|Mythos]]<!--]--> und Dichtung haben große Gestalten des I hervorgebracht: Ödipus, der im I schuldig wird, Odysseus, die personifizierte Irrfahrt, Don Quijote, der sich in der [[e:Epoche]] irrt.
  
 Irrtümer – von der Fehleinschätzung einer Situation oder einer gesellschaftlichen Kraft bis zur Verblendung derjenigen, deren Projekt sich hinterrücks ins Gegenteil des ursprünglich Angestrebten verwandelt hatte – begleiten auch die [[g:Geschichte]] von Theorie und Praxis des Marxismus. Die begriffliche Einsicht in die Bedingungen dieser Tatsache ist oft schwach entwickelt. Die [[e:Erkenntnis]] gesellschaftlicher Determiniertheit von Sichtweisen gehört an sich zu den Stärken des Marxismus; doch im Blick auf die eigene Betroffenheit durch das, was Theodor W. Adorno den »Verblendungszusammenhang« nennt, fehlt es weithin an geschichtsmaterialistischer Selbstreflexion. Der Grundirrtum der theoretischen Materialisten besteht dann darin, sich mangels Selbstanwendung wie praktische Idealisten zu verhalten. Irrtümer – von der Fehleinschätzung einer Situation oder einer gesellschaftlichen Kraft bis zur Verblendung derjenigen, deren Projekt sich hinterrücks ins Gegenteil des ursprünglich Angestrebten verwandelt hatte – begleiten auch die [[g:Geschichte]] von Theorie und Praxis des Marxismus. Die begriffliche Einsicht in die Bedingungen dieser Tatsache ist oft schwach entwickelt. Die [[e:Erkenntnis]] gesellschaftlicher Determiniertheit von Sichtweisen gehört an sich zu den Stärken des Marxismus; doch im Blick auf die eigene Betroffenheit durch das, was Theodor W. Adorno den »Verblendungszusammenhang« nennt, fehlt es weithin an geschichtsmaterialistischer Selbstreflexion. Der Grundirrtum der theoretischen Materialisten besteht dann darin, sich mangels Selbstanwendung wie praktische Idealisten zu verhalten.
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-➫ [[a:Abbild]],  [[a:Angst/Furcht]], [[a:Antagonismus]],  [[a:Aufhebung]],  [[d:Denkform]],  [[d:Determinismus]],  [[d:Dogmatismus]], [[e:Empirie/Theorie]],  [[e:Enttäuschung]],  [[e:Erfahrung]],  [[e:Erkenntnis]], [[e:Erscheinung, Erscheinungsform|Erscheinung/Erscheinungsform]],  [[e:Evidenz]],  [[f:falsches Bewusstsein]],  [[f:Falsifikationismus]], [[f:Fehler]],  [[f:Fetischcharakter der Ware]],  [[g:Geheimnis]],  [[g:Grundfrage der Philosophie]], [[h:Herrschaft]],  [[i:Idealtypus]],  [[i:Idee]],  [[i:Ideologe]],  [[i:Ideologiekritik]], [[i:Ideologietheorie]],  [[i:Illusion]],  [[i:Intellektuelle]],  [[i:Interesse]],  [[i:Ironie]], [[l:Legalität/Legitimität]],  <!--[-->[[l:Lohnform|Lohnform]]<!--]-->,  Lüge,  Materialismus,  Metaphysik, Mystifikation,  Philosophie,  Schein,  Selbstkritik,  Skepsis,  Sprache, Unbewusstes,  Verblendungszusammenhang,  Verkehrung,  Vermittlung, Vernunft,  Verselbständigung,  Vorurteil,  Wahrheit,  Weisheit,  Wissen, Zweifel +➫ [[a:Abbild]],  [[a:Angst/Furcht]], [[a:Antagonismus]],  [[a:Aufhebung]],  [[d:Denkform]],  [[d:Determinismus]],  [[d:Dogmatismus]], [[e:Empirie/Theorie]],  [[e:Enttäuschung]],  [[e:Erfahrung]],  [[e:Erkenntnis]], [[e:Erscheinung, Erscheinungsform|Erscheinung/Erscheinungsform]],  [[e:Evidenz]],  [[f:falsches Bewusstsein]],  [[f:Falsifikationismus]], [[f:Fehler]],  [[f:Fetischcharakter der Ware]],  [[g:Geheimnis]],  [[g:Grundfrage der Philosophie]], [[h:Herrschaft]],  [[i:Idealtypus]],  [[i:Idee]],  [[i:Ideologe]],  [[i:Ideologiekritik]], [[i:Ideologietheorie]],  [[i:Illusion]],  [[i:Intellektuelle]],  [[i:Interesse]],  [[i:Ironie]], [[l:Legalität/Legitimität]],  <!--[-->[[l:Lohnform|Lohnform]]<!--]-->,  [[l:Lüge]],  <!--[-->[[m:Metaphysik|Metaphysik]]<!--]--><!--[-->[[m:Mystifikation|Mystifikation]]<!--]-->,  Philosophie,  Schein,  Selbstkritik,  Skepsis,  Sprache, Unbewusstes,  Verblendungszusammenhang,  Verkehrung,  Vermittlung, Vernunft,  Verselbständigung,  Vorurteil,  Wahrheit,  Weisheit,  Wissen, Zweifel 
    
  

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i/irrtum.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/16 08:22 von christian     Nach oben
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